Skip to main content
Rächtzytig

Vorsorgeausgleich – Abweichen vom Grundsatz der hälftigen Teilung durch Parteivereinbarung

Vorsorgeausgleich – Abweichen vom Grundsatz der hälftigen Teilung durch Parteivereinbarung

2017 traten die revidierten Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen zum Vorsorgeausgleich bei der Scheidung in Kraft. Seither besteht ein grösserer Gestaltungsspielraum der Parteien bei der Abweichung vom Grundsatz der hälftigen Teilung der Guthaben der beruflichen Vorsorge. Da in jedem Scheidungsverfahren der Vorsorgeausgleich geregelt werden muss, ist das Thema weiterhin relevant und soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags beleuchtet werden.

Grundsätzliches zum Vorsorgeausgleich

Während der Ehe angesparte Guthaben der beruflichen Vorsorge (Pensionskassen- und Freizügigkeitsguthaben) werden bei der Scheidung ausgeglichen (sog. Vorsorgeausgleich, Art. 122 ZGB). Der Vorsorgeausgleich soll die vorsorgerechtlichen Nachteile aufgrund einer während der Ehe erfolgten Aufgabenteilung ausgleichen und dient der wirtschaftlichen Selbständigkeit jedes Ehegatten nach der Scheidung.[1] Dafür sieht das Gesetz im Grundsatz die hälftige Teilung der angesparten Guthaben der beruflichen Vorsorge vor (Art. 123 ZGB).

Seit 2017 regelt Art. 124b ZGB Ausnahmen von diesem Grundsatz. Eine Abweichung von der hälftigen Teilung kann entweder durch eine Vereinbarung der Ehegatten (Art. 124b Abs. 1 und 2 ZGB) oder durch ein Gerichtsurteil (Art. 124b Abs. 2 und 3 ZGB) erfolgen.

Abweichen aufgrund angemessener Alters- und Invalidenvorsorge

Die Ehegatten können in der Scheidungsvereinbarung von der hälftigen Teilung abweichen oder auf den Vorsorgeausgleich verzichten,[2] wenn eine angemessene Alters- und Invalidenvorsorge gewährleistet bleibt (Art. 124b Abs. 1 ZGB).

Warum von der hälftigen Teilung abweichen?

Die Gründe für ein Abweichen sind mannigfaltig. Ein Verzicht kommt häufig bei kurzen Ehen in Frage, in denen wenig Vorsorgeguthaben angespart worden ist. Bei Doppelverdienerehen wird eine Teilung der Vorsorgeguthaben z.T. nicht als notwendig erachtet, da beidseitig eine genügende Vorsorge vorhanden ist. Weiter kann bei unterschiedlich hohen Vermögen der vermögendere Ehegatte (mit einem kleineren Vorsorgeguthaben) gewillt sein, dem anderen das Vorsorgeguthaben zu belassen.[3]

Was bedeutet «angemessene Vorsorge»?

Primär soll vermieden werden, dass ein Verzicht zu Lasten der öffentlichen Hand geht.[4] Die Vorsorge der verzichtenden Partei muss daher in a) quantitativer (mengenmässiger) und b) qualitativer (wertmässiger) Hinsicht gewährleistet sein.[5]

  1. a) Die angemessene Vorsorge muss nicht dem Betrag entsprechen, den die Partei ohne Verzicht zugute hätte.[6] Sie beurteilt sich vielmehr anhand der Lebensumstände, mithin der persönlichen Verhältnisse (insbesondere Alter, aber auch die Nähe zum Rentenalter und die Ehedauer) und des konkreten Vorsorgebedarfs der verzichtenden Partei. Beispielsweise kann eine 40-jährige Person im Gegensatz zu einer 60-jährigen Person tendenziell noch länger eine eigene Vorsorge aufbauen und so eher auf einen Ausgleich verzichten. Oder zieht eine Person dauerhaft in ein Land mit tiefen Lebenshaltungskosten, kann eher ein (teilweiser) Verzicht in Betracht gezogen werden.[7] Gerichtliche Leitlinien zur konkreten Berechnung der angemessenen Vorsorge liegen jedoch – soweit ersichtlich – noch nicht vor.
  2. b) Die vorhandenen Vermögenswerte müssen zudem die Alters- und Invalidenvorsorge der verzichtenden Partei in genügender Weise absichern.[8] Freies Vermögen der verzichtenden Partei allein wird diesem Anspruch nicht gerecht, sondern es muss ein angemessener Ersatz für die berufliche Vorsorge vorliegen, wie z.B. eine gebundene dritte Säule, Wohneigentum oder eine Lebensversicherung.[9]

Ob eine angemessene Vorsorge der verzichtenden Partei vorliegt, lässt sich folglich nicht anhand von einfachen, allgemeinen Parametern bestimmen. Es handelt sich stets um eine Beurteilung im Einzelfall.

Überprüfung durch das Gericht

Die Parteivereinbarung über ein Abweichen von der hälftigen Teilung bedarf einer Genehmigung des Gerichts. Selbst wenn sich die Parteien einig sind, wird das Gericht bei der Scheidung überprüfen, ob bei einem Verzicht eine angemessene Vorsorge gewährleistet bleibt.

Abweichen aus wichtigen Gründen

Die Ehegatten können im Rahmen einer Scheidungsvereinbarung auch aus wichtigen Gründen auf den Vorsorgeausgleich verzichten oder von der hälftigen Teilung abweichen (vgl. Art. 124b Abs. 2 ZGB).[10]

Was sind «wichtige Gründe»?

Wichtige Gründe liegen u.a. vor, bei:

  • Unbilligkeit der hälftigen Teilung aufgrund der güterrechtlichen Auseinandersetzung und wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Scheidung, z.B. wenn die Ehefrau die Ausbildung des Ehemannes finanziert hat und der Ehemann nun die erlernte Erwerbstätigkeit aufnimmt.
  • Unbilligkeit der hälftigen Teilung der Vorsorgebedürfnisse, z.B. aufgrund eines sehr grossen Altersunterschieds.
  • gewissen Umständen und Verhalten, z.B. bei Begehen einer schweren Straftat.[11]

Ob sich die Ehegatten auf einen wichtigen Grund stützen können, muss anhand des konkreten Falles abgeklärt werden.

Überprüfung durch das Gericht

Bei wichtigen Gründen kann ein Verzicht erfolgen, auch wenn keine angemessene Vorsorge gewährleistet ist. Das Gericht prüft in einem solchen Fall, ob wichtige Gründe vorliegen.[12]

Abweichen von hälftiger Teilung vor der Scheidung?

Im Gesetz ist lediglich festgehalten, dass die Parteien in einer Scheidungsvereinbarung von der hälftigen Teilung der beruflichen Vorsorge abweichen können. Ob ein Abweichen schon vor der Scheidung, z.B. in einer sog. «Scheidungsvereinbarung auf Vorrat» erfolgen kann, hat das Bundesgericht seit der Gesetzesrevision im Jahr 2017 nicht entschieden und wird von der Lehre unterschiedlich beurteilt.[13]

Sollte ein Gericht eine Vorausvereinbarung als zulässig erachten, wird das Gericht wie dargelegt prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 124b ZGB im Zeitpunkt der Scheidung vorliegen.[14]

Fazit

Art. 124b ZGB eröffnet den Ehegatten eine gewisse Flexibilität beim Abweichen von der hälftigen Teilung der beruflichen Vorsorge – unter der Voraussetzung, dass eine angemessene Vorsorge der Parteien gewährleistet bleibt, oder bei Vorliegen von wichtigen Gründen. Ob eine «angemessene Vorsorge» oder «wichtige Gründe» (voraussichtlich) vorhanden sind, lässt sich erst im konkreten Fall beurteilen.

 

[1]     BGE 128 V 41 E. 2.d.

[2]        Die Person, welche (teilw.) verzichtet oder den grösseren Teil abgibt, wird als verzichtende Partei bezeichnet.

[3]     vgl. Wismer, FamPra 2021, S. 341 ff.

[4]     vgl. BGer 5D_148/2017 E.4.1.; BBL 2013 4916.

[5]     Wismer, FamPra 2021, S. 347; vgl. Hochstein, Die Ausnahme vom hälftigen Vorsorgeausgleich, 230 ff.

[6]     Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2018, N. 10.60a.

[7]     vgl. Hochstein, N. 260 ff. (Fn 5); FamKomm-Jungo/Grütter, ZGB 124b N. 6.

[8]     Hochstein, N. 310 (Fn 5).

[9]     vgl. FamKomm-Jungo/Grütter, ZGB 124b N 7; Wismer, FamPra 2021, S. 347.

[10]    Hochstein N. 363 f. (Fn 5).

[11]    vgl. FamKomm-Jungo/Grütter, ZGB 124b N 14 ff.; Wismer, FamPra 2021, S. 354 ff.

[12]    FamKomm-Jungo/Grütter, ZGB 124b N. 8.

[13]    Vgl. Guillod, Vorsorgeausgleich im internationalen Kontext, BJM 2023, S. 278 ff.

[14]    Jungo/Grob, Arbeitskreis Vorsorgeausgleich, FamPra.ch Nr. 28, 2023, S. 201.

Empfehlen Sie diesen Beitrag weiter: